Datum: 14. September 2023

Gericht: BVerwG

Spruchkörper: 3. Senat

Entscheidungart: Urteil

Aktenzeichen: 3 C 1.23

ECLI: ECLI:DE:BVerwG:2023:140923U3C1.23.0


Vorinstanz: OVG Münster

Urteil

BVerwG 3 C 1.23

 

VG Köln – 10.10.2017 – AZ: 7 K 5248/14
OVG Münster – 04.03.2020 – AZ: 13 A 3209/17

 

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts

 

auf die mündliche Verhandlung vom 14. September 2023

 

durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp,

 

den Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler,

 

die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann,

 

den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Sinner und

 

die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hellmann

 

für Recht erkannt:

 

          Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. März 2020 wird zurückgewiesen.

 

          Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

 

 

Gründe

 

I

 

1   Der Rechtsstreit betrifft die Abgrenzung von stofflichen Medizinprodukten und Arzneimitteln.

 

2   Die Klägerin stellt das Nasenspray „…“ her und bringt es als Medizinprodukt auf den Markt. Das Präparat enthält 50 mg eines gefriergetrockneten Pflanzenextrakts aus dem Rhizom des Alpenveilchens (…). Nach den Informationen in der Packungsbeilage ist das Spray angezeigt zur Befreiung und zum Abfluss von angestauten Schleimsekreten in Nasenhöhlen und oberem Atemwegstrakt, um eine Symptomerleichterung bei Stauungszustand in der Nase herbeiführen. Unter „Vorsichtsmaßnahmen“ heißt es: „In den ersten zwei Stunden nach Anwendung nicht Auto fahren und keine Maschinen bedienen“. Auf der Verpackung findet sich der Hinweis „Reinigung und Drainage der mit Schleim und Sekreten gefüllten Nasenhöhlen; symptomatische Erleichterung bereits ab der ersten Anwendung“.

 

3   Mit Bescheid vom 20. Juni 2013 stellte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) nach § 21 Abs. 4 des Arzneimittelgesetzes (AMG) fest, dass es sich bei dem Präparat um ein zulassungspflichtiges Arzneimittel handele. Es erfülle die Voraussetzungen eines Funktionsarzneimittels nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG. Die bestimmungsgemäße Hauptwirkung des Präparats werde mit den im Produkt enthaltenen Triterpensaponinen, mit der Hauptkomponente …, auf pharmakologische Weise erreicht. Das Produkt sei außerdem ein Präsentationsarzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG. Der hiergegen gerichtete Widerspruch der Klägerin wurde mit Bescheid vom 22. August 2014 zurückgewiesen.

 

4   Klage und Berufung der Klägerin sind ebenfalls erfolglos geblieben. Das Oberverwaltungsgericht hat im Urteil vom 4. März 2020 ausgeführt, das Produkt der Klägerin erfülle aufgrund der Angaben in der Packungsbeilage, auf der Verpackung und auf der englischsprachigen Produkt-Website die Voraussetzungen eines Präsentationsarzneimittels nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG. Der Begriff des Präsentationsarzneimittels finde auch dann Anwendung, wenn ein Erzeugnis als stoffliches Medizinprodukt auf den Markt gebracht werde. Zugleich sei eine nicht-pharmakologische Wirkungsweise im Sinne des § 2 Abs. 3 Nr. 7 AMG in Verbindung mit § 2 Abs. 5 Nr. 1 und § 3 Nr. 1 des Medizinproduktegesetzes (MPG) auch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nach dem Stand der Wissenschaft nicht erwiesen; die Wirkweise des Erzeugnisses sei letztlich offen. Damit bleibe es bei der Arzneimitteleigenschaft nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG.

 

5  Zur Begründung ihrer Revision trägt die Klägerin im Wesentlichen vor: Für die Einordnung eines stofflichen Medizinprodukts als Arzneimittel könne nur der Begriff des Funktionsarzneimittels herangezogen werden. Ein Produkt, das entsprechend der medizinprodukterechtlichen Vorgaben gekennzeichnet sei, präsentiere sich damit trotz seiner heilenden Wirkung, die die gesetzliche Zweckbestimmung eines Medizinprodukts sei, als Medizinprodukt und nicht als Arzneimittel. Daher sei bereits die Prüfungsreihenfolge des Oberverwaltungsgerichts unzutreffend. Die Abgrenzung zwischen Medizinprodukt und Arzneimittel habe anhand der Wirkungsweise der Produkte zu erfolgen; ein Abstellen auf das Erscheinungsbild sei nicht geeignet. Der Schutzzweck der Richtlinie 2001/83/EG verlange nicht die Anwendung des Begriffs des Präsentationsarzneimittels auf Erzeugnisse, die die Vorgaben des Medizinprodukteregimes erfüllten. Entgegen den Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts sei den Verbrauchern die Bedeutung der CE-Kennzeichnung bekannt. Die Apothekenexklusivität spreche nicht für die Arzneimitteleigenschaft. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts widerspreche der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts.

 

6   Mit Beschluss vom 20. Mai 2021 (3 C 9.20 ) hat der Senat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zur Abgrenzung von Medizinprodukten und Arzneimitteln zur Vorabentscheidung vorgelegt. Mit Urteil vom 19. Januar 2023 (C-495/21 und C-496/21) hat der Gerichtshof über das Vorabentscheidungsersuchen entschieden. Die Beteiligten haben zu der Entscheidung des Gerichtshofs Stellung genommen.

 

II

 

7   Die zulässige Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 144 Abs. 2 VwGO). Das angegriffene Urteil beruht nicht auf einem Verstoß gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die zulässige Klage ist unter Zugrundelegung der bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 20. Juni 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. August 2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

 

8   1. Rechtsgrundlage für den angegriffenen Bescheid ist, wovon auch das Oberverwaltungsgericht ausgegangen ist, § 21 Abs. 4 Satz 1 des Arzneimittelgesetzes (AMG) in der bei Abschluss des Verwaltungsverfahrens (vgl. BVerwG, Urteile vom 24. Oktober 2019 – 3 C 4.18 – BVerwGE 167, 1 Rn. 12 und vom 17. September 2021 – 3 C 20.20 – BVerwGE 173, 262 Rn. 13) geltenden Fassung des Änderungsgesetzes vom 27. März 2014 (BGBl. I S. 261). Hiernach entscheidet das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als nach § 77 Abs. 1 AMG zuständige Bundesoberbehörde auf Antrag einer zuständigen Landesbehörde unter anderem über die Zulassungspflicht eines Arzneimittels.

 

9   2. Das Berufungsgericht hat ohne Verstoß gegen revisibles Recht bejaht, dass es sich bei dem von der Klägerin hergestellten und vertriebenen Nasenspray um ein zulassungspflichtiges Arzneimittel handelt. Ausgehend von seinen tatsächlichen Feststellungen begegnet es keinen durchgreifenden Bedenken, dass es das Nasenspray als Präsentationsarzneimittel (a) eingeordnet hat, das nicht nach § 2 Abs. 3 Nr. 7 AMG von der Anwendung des Arzneimittelgesetzes ausgenommen ist (b).

 

10   a) Das Oberverwaltungsgericht hat ohne Rechtsverstoß angenommen, dass das Nasenspray ein Präsentationsarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG ist.

 

11   aa) Bestimmungen zum Präsentationsarzneimittel finden sich sowohl im Arzneimittelgesetz als auch in der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. L 311 S. 67) in der hier maßgeblichen Fassung der Richtlinie 2012/26/EU vom 25. Oktober 2012 (ABl. L 299 S. 1). Die Begriffsbestimmungen im Arzneimittelgesetz sind im Lichte der Vorgaben des Unionsrechts auszulegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. September 2021 – 3 C 20.20 – BVerwGE 173, 262 Rn. 18). Unter den Begriff des Präsentationsarzneimittels im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG und Art. 1 Nr. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83/EG fallen Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die zur Anwendung im oder am menschlichen Körper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind.

 

12   bb) Das Oberverwaltungsgericht hat die so definierte Kategorie des Präsentationsarzneimittels zutreffend auch dann für anwendbar gehalten, wenn ein Erzeugnis als Medizinprodukt vertrieben wird. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat im Vorabentscheidungsverfahren entschieden, dass auch ein als Medizinprodukt vertriebenes Erzeugnis ein Präsentationsarzneimittel sein kann (EuGH, Urteil vom 19. Januar 2023 – C-495/21 [ECLI:​​EU:​​C:​​2023:​​34] und C-496/21 – Rn. 49). Der Einwand der Klägerin, damit werde ihr systemwidrig die Beweislast für das Vorliegen eines Medizinproduktes auferlegt, greift nicht durch. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass ein Hersteller, der ein Erzeugnis als Medizinprodukt vertreiben möchte, die Erfüllung der Voraussetzungen für das Vorliegen eines solchen Produkts nachweisen muss (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Januar 2023 – C-495/21 und C-496/21 – Rn. 38).

 

13   cc) Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, dass das von der Klägerin hergestellte Nasenspray als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt ist, begegnet keinen Bedenken.

 

14   (1) Der vom Berufungsgericht zugrunde gelegte Maßstab, wonach ein Erzeugnis als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt ist, wenn es entweder ausdrücklich als solches bezeichnet wird oder bei einem durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Verbraucher schlüssig, aber mit Gewissheit der Eindruck entsteht, dass das Erzeugnis nach seiner Aufmachung in Bezug auf bestimmte Erkrankungen eine heilende, vorbeugende oder Leiden lindernde Wirkung hat, entspricht der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 15. November 2007 – C-319/05 [ECLI:​​EU:​​C:​​2007:​​678] – Rn. 44, 46; bestätigt mit Urteil vom 19. Januar 2023 ‌- C-495/21 und C-496/21 – Rn. 45 f.) und des erkennenden Senats (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. September 2021 – 3 C 20.20 – BVerwGE 173, 262 Rn. 20). Gleiches gilt für das vom Oberverwaltungsgericht angenommene Erfordernis einer Gesamtbetrachtung (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Januar 2023 – C-495/21 und C-496/21 – Rn. 48; BVerwG, Urteil vom 17. September 2021 – 3 C 20.20 – ‌BVerwGE 173, 262 Rn. 20). Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren auch bestätigt, dass im Rahmen dieser Gesamtbetrachtung die Präsentation des Erzeugnisses, die Bezugnahmen auf Wechselwirkungen mit Arzneimitteln und auf unerwünschte Wirkungen sowie die Apothekenexklusivität als relevante Kriterien herangezogen werden können (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Januar 2023 – C-495/21 und C-496/21 – Rn. 48). Das im Vorlagebeschluss angesprochene Kriterium der Inanspruchnahme einer spezifisch arzneilichen Wirkung hat er nicht aufgegriffen und dadurch deutlich gemacht, dass es für die Bejahung eines Präsentationsarzneimittels in Abgrenzung zum Medizinprodukt hierauf nicht ankommt.

 

15   (2) Von diesem Maßstab ausgehend tragen die nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit das Revisionsgericht nach § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts die Qualifizierung des Nasensprays der Klägerin als Präsentationsarzneimittel. Das Berufungsgericht hat insoweit festgestellt, dass das Nasenspray der Klägerin in der Packungsbeilage und auf der Verpackung als Mittel beschrieben werde, das „der Reinigung und Drainage der mit Schleim und Sekreten gefüllten Nasenhöhlen“ und zur „symptomatischen Erleichterung“ diene bzw. das „zur Befreiung und zum Abfluss von angestauten Schleimsekreten in Nasenhöhlen und oberem Atemwegstrakt“ angezeigt sei, „um eine Symptomerleichterung bei Stauungszustand in der Nase herbeizuführen“. Ein Stau von Schleimsekreten in der Nase und den Nasennebenhöhlen sei ein krankhafter Zustand, der bei Schnupfen und besonders ausgeprägt bei einer Nasennebenhöhlenentzündung auftrete und – jedenfalls in letzterem Fall – typischerweise mit arzneilichen Nasensprays behandelt werde. Das Produkt werde auch allein in Apotheken verkauft. Diese Vertriebsform gleiche aus Verbrauchersicht der gerade von Arzneimitteln bekannten „Apothekenpflicht“, während reine Salzwasser- oder Meerwasserpräparate auch in Drogerien erhältlich seien. Auf der Packung sei zwar auch das‌ CE-Kennzeichen angebracht. Hieraus auf den Vertrieb als Medizinprodukt zu schließen, setze aber eine über das Wissen eines durchschnittlich informierten Verbrauchers hinausgehende Kenntnis der Produktkennzeichnungen voraus. Das Kennzeichen sei für den Eindruck aus durchschnittlicher Verbrauchersicht deshalb ohne Bedeutung.

 

16   Hiervon ausgehend begegnet die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, der überwiegende Eindruck der deutschsprachigen Verpackung und der deutschsprachigen Gebrauchsanweisung vermittelten einem durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Verbraucher bei der gebotenen Gesamtbetrachtung schlüssig, aber mit Gewissheit den Eindruck, dass das Erzeugnis wie ein Arzneimittel zur Heilung oder Linderung von Krankheitssymptomen bestimmt sei, keinen durchgreifenden Bedenken. Ob im Rahmen der Gesamtbetrachtung auch – wie das Oberverwaltungsgericht angenommen hat – die Informationen auf der englischsprachigen Website des Präparats herangezogen werden können, kann daher offen bleiben.

 

17   b) Ebenfalls ohne Verstoß gegen Bundesrecht hat das Oberverwaltungsgericht entschieden, dass das Nasenspray der Klägerin nicht gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 7 AMG von der Geltung des Arzneimittelgesetzes ausgenommen ist.

 

18   aa) Nach dieser Vorschrift sind Medizinprodukte und Zubehör für Medizinprodukte im Sinne des § 3 des Medizinproduktegesetzes keine Arzneimittel, es sei denn, es handelt sich – hier nicht einschlägig – um in vivo-Diagnostika. Nach § 3 Nr. 1 Buchst. a des Medizinproduktegesetzes (MPG) in der insoweit maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – GKV-FQW) vom 21. Juli 2014 (BGBl. I S. 1133) sind Medizinprodukte unter anderem alle Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die vom Hersteller zur Anwendung für Menschen mittels ihrer Funktionen zum Zwecke der Erkennung, Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten zu dienen bestimmt sind und deren bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am menschlichen Körper weder durch pharmakologisch oder immunologisch wirkende Mittel noch durch Metabolismus erreicht wird, deren Wirkungsweise aber durch solche Mittel unterstützt werden kann. Der Wortlaut der Bestimmung entspricht damit der Formulierung des Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42/EWG über Medizinprodukte (ABl. L 169 S. 1) in der durch Richtlinie 2007/47/EG (ABl. L 247 S. 21) geänderten Fassung. Nach Art. 1 Abs. 5 Buchst. c der Richtlinie 93/42/EWG ist bei der Entscheidung, ob ein Produkt in den Geltungsbereich der Arzneimittelrichtlinie 2001/83/EG oder den der für Medizinprodukte geltenden Vorschriften fällt, insbesondere die hauptsächliche Wirkungsweise des Produkts zu berücksichtigen. Dem entspricht die in § 2 Abs. 5 Nr. 1 MPG getroffene Regelung. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil im Vorabentscheidungsverfahren klargestellt, dass trotz der Formulierung „insbesondere“ die Wirkungsweise das entscheidende Kriterium zur Abgrenzung von Medizinprodukten und Arzneimitteln ist. Bei Fehlen wissenschaftlicher Erkenntnisse, die den Nachweis ermöglichen würden, dass die bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am menschlichen Körper weder durch pharmakologische oder immunologische Mittel noch metabolisch erreicht wird, kann ein Erzeugnis nicht als Medizinprodukt eingestuft werden (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Januar 2023 – C-495/21 und C-496/21 – ‌Rn. 40 f.).

 

19   bb) Das Berufungsgericht hat ohne Verletzung von Bundesrecht angenommen, dass nicht festgestellt werden kann, dass die bestimmungsgemäße Hauptwirkung des Produktes der Klägerin durch nicht-pharmakologische Mittel erreicht wird.

 

20   (1) Das Oberverwaltungsgericht hat angenommen, dass eine pharmakologische Wirkung nicht nur in Betracht kommt, wenn eine Substanz vom menschlichen Körper absorbiert wird und auf diese Weise in Wechselwirkung mit körpereigenen Molekülen tritt, sondern auch, wenn sie an der Oberfläche etwa von Schleimhäuten verbleibt und mit dort vorhandenen sonstigen Zellmolekülen reagiert. Auch nicht rezeptorvermittelte Wirkweisen könnten vom Begriff der pharmakologischen Wirkung erfasst sein, vorausgesetzt die Substanz habe einen nennenswerten Einfluss auf die physiologischen Funktionen des menschlichen Körpers und beeinflusse diese gezielt (UA S. 37 f.).

 

21   Dass diese Auslegung mit revisiblem Recht vereinbar ist, kann der Senat ohne erneute Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden. Zwar hat dieser die erste Frage des Vorlagebeschlusses, die den Begriff der pharmakologischen Wirkung betraf, unbeantwortet gelassen. Dass – anders als die Klägerin vorträgt – vom Begriff der pharmakologischen Wirkung auch nicht rezeptorvermittelte Wirkweisen erfasst sein können, lässt sich aber auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs bejahen. Dieser hat in einem eine Mundspüllösung betreffenden Verfahren entschieden, dass vom Vorliegen einer pharmakologischen Wirkung einer Substanz nicht nur dann ausgegangen werden kann, wenn es zu einer Wechselwirkung zwischen den Molekülen dieser Substanz und einem zellulären Bestandteil des Körpers des Anwenders kommt, sondern dass eine Wechselwirkung zwischen dieser Substanz und einem beliebigen im Körper des Anwenders vorhandenen zellulären Bestandteil genügt (EuGH, Urteil vom 6. September 2012 – C-308/11 [ECLI:​​EU:​​C:​​2012:​​548] -‌ Rn. 31 ff.); hierauf hat das Berufungsgericht Bezug genommen. Hätte der Gerichtshof diese Rechtsprechung für Konstellationen der vorliegenden Art einschränken wollen, wäre ein entsprechender Hinweis in seiner Vorabentscheidung zu erwarten gewesen.

 

22   (2) In tatsächlicher Hinsicht hat das Oberverwaltungsgericht in Auseinandersetzung mit den von der Klägerin vorgelegten Gutachten und Stellungnahmen der Beklagten ausgeführt, dass die Wirkweise des Nasensprays offen bleibe. Maßgeblich für die Wirkungen des Erzeugnisses seien die im Extrakt des Alpenveilchens enthaltenen Triterpensaponine. Diese könnten sich an die Membran der Nasenschleimhaut anlagern. Dadurch werde die Organisation und Funktion der Membran verändert, insbesondere ihre Durchlässigkeit erhöht, was zu einer Reizung der Zellen führe. Diese Reizung bewirke über einen Mechanismus eine gesteigerte Sekretion von Mucin durch Drüsenzellen im Nasenraum und in den Nasennebenhöhlen. Dass diese Wirkweise nicht-pharmakologisch, nämlich rein physikalisch sei, sei nicht wissenschaftlich belegt. Es fehle an wissenschaftlichen Belegen für die Theorie der Klägerin, dass die durch Adsorption der Saponine verursachte Membrankontraktion zu einer Stimulierung der Mechanorezeptoren führe, die reflektorisch eine Steigerung der Schleimsekretion bewirkten. Einer der Sachverständigen der Klägerin habe selbst ausgeführt, dass die vorliegenden Studien keine Aussage darüber träfen, ob die Wirkung der Saponine auf die Drüsenzellen durch einen physikalischen oder einen pharmakologischen Mechanismus induziert werde, und dass es aufgrund der bekannten generellen Eigenschaften von Saponinen lediglich „naheliege“, einen physikalischen Wirkmechanismus zu „postulieren“. Damit sei die von der Vertreterin der Beklagten im Berufungsverfahren aufrechterhaltene These, die Wechselwirkung der Saponine mit zellulären Bestandteilen der Membran der Nasenschleimhaut bewirke eine größere Durchlässigkeit der Membran und löse auf diese Weise die Hypersekretion aus, nicht widerlegt (UA S. 38 ff.).

 

23   Verfahrensrügen gegen diese Feststellungen bringt die Klägerin nicht vor.

 

24   (3) Es begegnet keinen Bedenken, dass das Berufungsgericht hiervon ausgehend angenommen hat, dass eine der nach seinen Feststellungen in Betracht kommenden Wirkweisen des Nasensprays der Klägerin – die Steigerung der Durchlässigkeit der Membran der Nasenschleimhaut als Folge einer Wechselwirkung der Saponine mit zellulären Bestandteilen der Membran – als pharmakologisch zu qualifizieren wäre. Es hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass die als Wirkmechanismus in Betracht kommende Wechselwirkung der Saponine mit den Schleimhautzellen eine substantielle Veränderung der physiologischen Funktionen des Schleimhautepithels hervorruft, die über die normalen physiologischen Abläufe hinausgeht. Dass das Berufungsgericht auf dieser Grundlage angenommen hat, dass es zu einer nennenswerten und gezielten Beeinflussung der Funktionsbedingungen des menschlichen Körpers kommt, so dass eine pharmakologische Wirkung zu bejahen ist, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

 

25   cc) Ist damit das Oberverwaltungsgericht ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass eine nicht-pharmakologische Wirkung des Nasensprays nicht festgestellt werden kann, so hat es im Folgenden ebenfalls im Einklang mit revisiblem Recht angenommen, dass die Nichterweislichkeit dieser Voraussetzung der Anerkennung als Medizinprodukt entgegensteht und damit zu Lasten der Klägerin geht.

 

26   Diese Beweislastverteilung hat der Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren bestätigt (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Januar 2023 – C-495/21 und C-496/21 -‌ Rn. 38). Ihre Anwendung führt auch nicht zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit und in Grundrechte der Hersteller (Art. 16, 17 GrCh; Art. 12, 14 GG). Soweit die Schutzbereiche dieser Vorschriften überhaupt eröffnet sind, ist der Eingriff jedenfalls verhältnismäßig. Die aus der dargestellten Beweislastverteilung folgende Anwendung des Arzneimittelrechts auf Produkte, bei denen der Hersteller eine nicht-pharmakologische Wirkung nicht nachweisen kann, dient dem Gesundheitsschutz. Die Anwendung des Arzneimittelregimes ist zur Förderung dieses Zweckes auch geeignet. Dies folgt zum einen aus der Erwägung, dass von Produkten, die ihre bestimmungsgemäße Hauptwirkung weder durch pharmakologische oder immunologische Mittel noch metabolisch erreichen, eine geringere Gefährlichkeit als von Arzneimitteln ausgeht (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Januar 2023 – C-495/21 und C-496/21 -‌ Rn. 39). Eine geringere Gefährlichkeit kann jedoch nur dann angenommen werden, wenn sicher feststeht, dass das fragliche Produkt keine mit einem erhöhten Gefahrenpotential verbundenen Wirkweisen hat. Zum anderen wird durch die Anwendung des Arzneimittelrechts gewährleistet, dass keine Erzeugnisse auf den Markt gelangen, denen die Verbraucher aufgrund ihrer Aufmachung als Arzneimittel zwar eine entsprechende Wirksamkeit zuschreiben, deren Wirkungsweise aber unbekannt und nicht in einem arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahren überprüft worden ist (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 19. Januar 2023 – C-495/21 und C-496/21 – Rn. 42). Ein milderes, gleich geeignetes Mittel ist nicht erkennbar. Die Anwendung des Arzneimittelrechts ist auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Hierdurch wird ein erheblicher Beitrag zur Förderung des Gesundheitsschutzes geleistet, gegenüber dem die wirtschaftlichen Interessen der Hersteller zurücktreten.

 

27   3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.