Datum: 25. April 2023

Gericht: VG Köln

Spruchkörper: 7. Kammer

Entscheidungart: Urteil

Aktenzeichen: 7 K 14623/17

ECLI: ECLI:DE:VGK:2023:0425.7K14623.17.00

Verwaltungsgericht Köln, 7 K 14623/17

 

Tenor:
Der Bescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 29.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.10.2017 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.


1   Tatbestand

 

2   Die Klägerin, die eine Spezialistin im Bereich hochpreisiger Beauty-Marken ist, hat das Produkt „K.      “ entwickelt und bringt es als Kosmetikum in den Verkehr. Das Produkt besteht aus einer gelartigen Flüssigkeit, die unter anderem einen Wirkstoff mit der Bezeichnung „Methylamid-dihydro-noralfaprostal“ = MDN enthält. Die Konzentration des Wirkstoffs schwankt nach den Ergebnissen einer von der Beklagten vorgelegten Untersuchung zwischen 0,001 und 0,302 %. Bei dem Wirkstoff handelt es sich um eine neuartige synthetische Substanz, die strukturverwandt mit dem menschlichen Gewebshormon Prostaglandin ist und als Prostaglandin-Derivat oder Prostaglandin-Analogon bezeichnet wird.

 

3   Prostaglandine bilden eine Stoffgruppe, die in verschiedenen Organen des Körpers bei Bedarf im Wege der Biosynthese aus Fettsäuren hergestellt werden und zahlreiche physiologische Vorgänge im Wege einer Bindung an spezielle Rezeptoren steuern. Sie sind insbesondere an der Regulation der Reproduktion, (z.B. Einleitung von Wehen), des Herz-Kreislaufsystems, der Atmung, des Schmerzes und des okulären und sensorischen Systems beteiligt. In der Pharmaforschung sind einige synthetische Prostaglandinanaloga entwickelt worden, die strukturverwandt mit den menschlichen Prostaglandinen sind und deren Wirkungen therapeutisch eingesetzt werden (https://de.wikipedia.org/wiki/Prostaglandine, Abruf vom 27.10.2020).

 

4   Prostaglandin-Derivate des Typs PGF2alpha werden beispielsweise in der Augenheilkunde als Bestandteil von Augentropfen zur Behandlung des Glaukoms („grüner Star“) verwendet. Ein Prostaglandinderivat mit der Bezeichnung „Bimatoprost“ = BMP ist als Wirkstoff in Augentropfen zur Behandlung des Glaukoms in Deutschland als Arzneimittel zugelassen („Lumigan“). Eine bekannte Nebenwirkung von BMP, die in klinischen Studien zutage trat, ist eine Verstärkung des Wimpernwachstums. In den USA ist Bimatoprost außerdem bei einer „Hypotrichose der Wimpern“ zur Förderung des Wimpernwachstums als Arzneimittel zugelassen („Latisse“). Diese Produkte enthalten BMP in einer 0,03 %igen Lösung.

 

5   Nach dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse wirkt Bimatoprost, indem es die Wachstumsphase der Wimpern (Anagen) verlängert und die nachfolgende Übergangsphase (Katagen) verzögert. Hierdurch befinden sich jeweils mehr Wimpern in der Wachstumsphase, sodass es zu einer Zunahme an Haarschäften kommt, die dichtere und längere Wimpern bilden. Durch einen weiteren Mechanismus wird auch die Farbe der Wimpern verstärkt. Eine Neugenese der Haarfollikel findet nicht statt. In der wissenschaftlichen Diskussion wird angenommen, dass dieser Effekt auf eine Agonistwirkung der Prostaglandinanaloga an PG-Rezeptoren zurückzuführen ist, wobei der genaue Wirkungsmechanismus noch unbekannt ist.

 

6   Der im streitgegenständlichen Erzeugnis verwendete Stoff MDN ist in der Molekülstruktur weitgehend identisch mit dem in „Lumigan“ und „Latisse“ verwendeten Wirkstoff Bimatoprost. Die beiden Stoffe unterscheiden sich lediglich durch die an die Amidgruppe (NH) angelagerte, endständige Molekülgruppe, die im Fall von MDN eine Methylgruppe (-CH3) und im Fall von BMP eine Ethylgruppe (-CH2CH3) ist.

 

7   Die Klägerin bewirbt das Erzeugnis als innovatives Beauty-Produkt, das das natürliche Wachstum und die Dichte der Wimpern bis zu durchschnittlich 50 % fördere. Das gel-artige T.     befindet sich in einer länglichen Flasche mit einem integrierten Pinsel, das einem Behältnis für Wimperntusche oder Eye-Liner gleicht. Die Flüssigkeit soll einmal täglich mit dem Pinsel auf den Ansatz der oberen Wimpern wie ein Eye-Liner aufgetragen werden.

 

8   Auf Antrag der zuständigen Landesüberwachungsbehörde stellte das BfArM auf der Grundlage von § 21 Abs. 4 AMG mit Bescheid vom 29.04.2014 fest, dass es sich bei dem Produkt nicht um ein Kosmetikum, sondern um ein zulassungspflichtiges Arzneimittel handele. Das Erzeugnis habe die Merkmale eines Funktionsarzneimittels nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a) AMG. Denn die Wirkungen von MDN und BMP, das als Augenheilmittel eingesetzt werde, seien vergleichbar. Zwar seien Untersuchungen zu den chemischen und biologischen Eigenschaften von MDN nicht vorhanden. Jedoch sei die Molekülstruktur der beiden Stoffe hinsichtlich der charakteristischen Bestandteile vergleichbar. Wegen der bekannten Struktur-Wirkungsbeziehungen könne daher angenommen werden, dass auch die Wirkungen vergleichbar seien. Dies werde dadurch bestätigt, dass die Klägerin die für BMP bekannte Wirkung des verstärkten Wimpernwachstums bei Anwendung des Wirkstoffs MDN in eigenen Testreihen festgestellt habe. MDN habe eine pharmakologische Wirkung, weil es – wie BMP – eine Wechselwirkung mit einem Prostamidrezeptor eingehe, was der Definition im Leitlinienpapier der Europäischen Kommission (MEDDEV 2.1/3 rev. 3) entspreche.

 

9   Die Verlängerung und Verdichtung der Wimpern sei auch eine nennenswerte Beeinflussung der Körperfunktionen. Für die Annahme eines Funktionsarzneimittels spreche überdies, dass eine Gesundheitsgefahr bei Anwendung des Mittels nicht ausgeschlossen werden könne. Es seien wegen der strukturellen Ähnlichkeit auch ähnliche Nebenwirkungen wie bei „Latisse“ zu erwarten, nämlich eine Hyperämie (Rötung) der Bindehaut, Augenjucken oder Kopfschmerzen.

 

10   Nach Durchführung des Widerspruchsverfahrens erhob die Klägerin hiergegen am 09.11.2017 Klage, mit der sie die Aufhebung des Bescheides beantragt hat.

 

11    Die Klägerin ist der Auffassung, eine pharmakologische Wirkung ihres Produkts bzw. des Wirkstoffs MDN sei ausgeschlossen. In den vom Hersteller des Wirkstoffs durchgeführten vergleichenden in-vitro-Untersuchungen zum Hydrolyseverhalten und zum Bindungsverhalten an Rezeptoren zeige sich, dass die Stoffe MDN und BMP trotz ihrer strukturellen Ähnlichkeit hinsichtlich ihrer biologischen und chemischen Eigenschaften nicht vergleichbar seien. MDN reagiere – im Unterschied zu BMP – nicht mit dem FP-Prostaglandin-Rezeptor und auch nicht mit einem – bisher nicht identifizierten –  Prostamidrezeptor. Es wirke vermutlich ähnlich wie die Stoffgruppe der Ceramide, indem es in der Nähe von Membranstrukturen eine ausgeglichene Lipidumgebung schaffe. Hierbei handele es sich nicht um eine pharmakologische Wirkung.

 

12   Die Klägerin meint außerdem, die Förderung des Wimpernwachstums sei keine nennenswerte Beeinflussung der physiologischen Funktionen. Das Produkt führe nicht zu Wirkungen, die außerhalb der normalen Lebensvorgänge im Körper lägen. Es komme nur zu einer moderaten Verlängerung der Wachstumsphasen der Wimpernwurzeln. Andere Mittel gegen den normalen, erblich bedingten Haarausfall seien bisher in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Wettbewerbsrecht (BGH, Urteil vom 21.01.2010 – I ZR 23/07 – und I ZR 51/06 –) als kosmetische Mittel eingeordnet worden. Auch bei der Zulassung des Arzneimittels „Latisse“ in den USA sei von der Zulassungsbehörde in erster Linie ein ästhetischer Nutzen angenommen worden. Die Verwendung einer arzneilichen Substanz in einem kosmetischen Produkt sei zulässig, wenn der Stoff nicht ausdrücklich in Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 vom 30.11.2009 über kosmetische Mittel aufgenommen und damit verboten sei. Dies sei bei Prostaglandinanaloga nicht der Fall. Auch nach den Leitlinien im „Manual of the working group on cosmetic products (sub-group on borderline products) on the scope of application of the cosmetics regulation (EC) No 1223/2009 (Art. 2 (1)(A)), Rn. 95 sei der Einsatz einer Substanz, die in Arzneimitteln Anwendung fände, in kosmetischen Produkten nicht allein entscheidungserheblich. Maßgeblich sei danach eine Fall-zu-Fall-Betrachtung.

 

13   Die vom BfArM angenommenen Gesundheitsrisiken seien aus den Anwendungserfahrungen von Arzneimitteln entnommen und für das streitgegenständliche Produkt nicht belegt. Dieses unterscheide sich von „Latisse“ durch die um ein Drittel geringere Konzentration des Wirkstoffs, die größere Viskosität der Flüssigkeit und der Form des kleineren präziseren Applikators. Aus diesem Grund werde lediglich ca. 10 % des Wirkstoffs appliziert, der bei der Anwendung von „Latisse“ aufgetragen werde. Bei einem durchgeführten klinischen Epikutantest (am Rücken von Probanden) sowie einem sogenannten HET-CAM-Test (an einem befruchteten Hühnerei) seien keine Unverträglichkeiten festgestellt worden. Die Klägerin habe seit 2009 keine Meldungen über Unverträglichkeiten erhalten, die über gerötete Bindehaut, Augenjucken oder Augenbrennen hinausgegangen seien und bei allen Kosmetika zu erwarten seien, die in der Nähe der Augen angewendet würden. Die zuständige Überwachungsbehörde habe die nach der EU-Kosmetikverordnung vorgeschriebene Sicherheitsbewertung nach dem TTC-Konzept akzeptiert.

 

14   Schließlich erklärte die Klägerin, die Einstufung als Funktionsarzneimittel widerspreche der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Produkten, die nicht zu therapeutischen Zwecken, sondern ausschließlich zu Entspannungs- oder Rauschzwecken konsumiert würden und dabei gesundheitsschädlich seien (EuGH, Urteil vom 10.07.2014, C-358/13 u.a. zu „Legal Highs“). Das vorliegende Produkt sei hiermit vergleichbar, denn es liege keine therapeutische, sondern eine ausschließlich kosmetische Zweckbestimmung und tatsächliche Anwendung vor. Auf hypothetische Erwägungen zu möglichen therapeutischen Einsatzzwecken komme es nicht an. Auch das Bundesverwaltungsgericht verlange für das Vorliegen eines Funktionsarzneimittels eine objektive Eignung, für therapeutische Zwecke eingesetzt zu werden (BVerwG, Urteil vom 20.11.2014 – 3 C 25.13 – „E-Zigarette“).

 

15   Die Beklagte hält an ihrer Einstufung des Erzeugnisses als Funktionsarzneimittel fest. Der eingesetzte Wirkstoff MDN beeinflusse das Wimpernwachstum in einer erheblichen Weise durch eine pharmakologische Wirkungsweise. Die von der Klägerin vorgelegten Untersuchungen zum Hydrolyseverhalten und zur Affinität zu Rezeptoren zeigten nicht unterschiedliche, sondern vergleichbare Eigenschaften. Beide Stoffe würden nur geringfügig hydrolysiert und reagierten nur geringfügig mit dem FP-Rezeptor. Aus dem Assessment Report der EMA zu „Lumigan“ No. EMEA/H/391/X/0026 vom 07.01.2010 könne entnommen werden, dass BMP die Wirkung bestimmter körpereigener Stoffe, der Prostamide, nachahme und wie diese mit einem Prostamid-Rezeptor reagierten. Dass dieser noch nicht identifiziert sei, sei nicht relevant. Diese Wirkung könne aufgrund der Strukturanalogie und der identischen Wirkung auf das Wimpernwachstum – trotz der geringeren Auftragungsmenge – auch von MDN angenommen werden.

 

16   Strukturanalogien seien wissenschaftlich anerkannt und würden auch vom Bundesinstitut für Risikobewertung bei der Beurteilung von Prostaglandinanaloga als Argumentationshilfe eingesetzt. Auch die Regulierung von Betäubungsmitteln nach dem „Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz“ beruhe auf Stoffklassen, die durch Strukturanalogien gebildet würden. Diese Herangehensweise sei erforderlich, um auf ständige Neuentwicklungen von Stoffen angemessen zu reagieren. Die von der Klägerin behauptete Wirkungsweise aufgrund einer Ähnlichkeit mit Ceramiden sei ohne jeglichen Beleg zur Ähnlichkeit oder Wirkungsgleichheit.

 

17   Da das streitgegenständliche Produkt hinsichtlich der Wirkung auf das Wimpernwachstum mit „Latisse“ vergleichbar sei, müsse auch mit den bei Latisse aufgetretenen Nebenwirkungen gerechnet werden. Die australische Arzneimittelzulassungsbehörde habe die Zulassung wegen des Risikoprofils abgelehnt. Im zugrunde liegenden Assessment Report werde von Irishyperpigmentierung und Enophtalmos (eingesunkene Augen), Hornhauterosionen, punktförmiger Keratitis (Hornhautentzündung) mit möglicher Sehstörung, Juckreiz, geröteten Augen, Dunkelfärbung der Haut um die Augen berichtet. Die von der Klägerin vorgelegten Untersuchungen (Epikutantest, Test am befruchteten Hühnerei) könnten auf die Anwendung am menschlichen Auge nicht übertragen werden und erlaubten keine Aussage zur Langzeitanwendung. Die Klägerin habe keine differenzierten Angaben über die bei ihr eingegangen Nebenwirkungsmeldungen gemacht. Auch das Bundesinstitut für Risikobewertung habe im Juli 2018 eine Gesundheitsgefährdung durch Prostaglandinanaloga in kosmetischen Wimpernwuchsmitteln angenommen. Die Europäische Kommission habe am 22.06.2020 einen „Call for data“ gestartet, um wissenschaftliche Informationen zu Prostaglandinanaloga zu sammeln und eine Mandatierung des europäischen Ausschusses für die Bewertung von Non-Food-Produkten (SCCS) vorzubereiten.

 

18   Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs stehe einer Einstufung als Funktionsarzneimittel nicht entgegen. Der Gerichtshof habe im Urteil vom 16.04.1991, C-112/89, entschieden, dass ein kosmetisches Mittel gegen erblich bedingten Haarausfall ein Funktionsarzneimittel sein könne, wenn es sich nennenswert auf den Stoffwechsel auswirke, ohne jedoch ein Mittel zur Heilung einer Krankheit zu sein. Das treffe auf das vorliegende Produkt ebenfalls zu. Die Entscheidung vom 10.07.2014, C-358/13, stehe dem nicht entgegen. Danach sei zumindest die Eignung erforderlich, der Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein. Dies sei bei dem streitgegenständlichen Mittel der Fall. Es verbessere das Erscheinungsbild und habe die objektive Eignung, einen krankhaften Wimpernausfall (Madarosis) oder einen Wimpernausfall im Rahmen einer Chemotherapie zu behandeln. Auch seien der anlagebedingte Haarausfall und eine anlagebedingte Hypotrichose der Wimpern bei starker Ausprägung und der damit einhergehenden psychischen Belastung als Krankheit aufzufassen, die mit dem Produkt behandelt werden könne.

 

19   Die Kammer hat dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die folgenden entscheidungserheblichen Fragen zur Auslegung der Definition des Funktionsarzneimittels in Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b der Richtlinie 2001/83/EG vom 6. November 2001 in der Fassung der Verordnung (EU) 2019/1243 vom 20.06.2019 mit Beschluss vom 27.10.2020 vorgelegt:

 

20   1. Ist eine nationale Behörde bei der Einstufung eines kosmetischen Mittels als Funktionsarzneimittel im Sinne des Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b) der Richtlinie 2001/83/EG vom 6. November 2001, die eine Prüfung aller Merkmale des Produktes einschließt, berechtigt, die erforderliche wissenschaftliche Feststellung der pharmakologischen Eigenschaften des Produktes sowie seiner Risiken auf eine sogenannte „Strukturanalogie“ zu stützen, wenn der verwendete Wirkstoff neu entwickelt worden ist, in seiner Struktur bereits bekannten und untersuchten pharmakologischen Wirkstoffen vergleichbar ist, aber keine umfassenden pharmakologischen, toxikologischen oder klinischen Untersuchungen des neuen Stoffs zu seinen Wirkungen und seiner Dosierung vom Antragsteller vorgelegt werden, die nur bei Anwendung der Richtlinie 2001/83/EG erforderlich sind?

 

21   2. Ist Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b) der Richtlinie 2001/83/EG vom 6. November 2001 dahingehend auszulegen, dass ein Produkt, das als Kosmetikum in den Verkehr gebracht wird und die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische Wirkung nennenswert beeinflusst, nur dann als Funktionsarzneimittel anzusehen ist, wenn es eine konkrete positive, die Gesundheit fördernde Wirkung hat? Genügt es hierbei auch, dass das Erzeugnis vorwiegend eine positive Auswirkung auf das Aussehen hat, die der Gesundheit durch eine Steigerung des Selbstwertgefühls oder des Wohlbefindens mittelbar zuträglich ist?

 

22   3. Oder ist es auch dann ein Funktionsarzneimittel, wenn sich seine positive Wirkung auf eine Verbesserung des Aussehens beschränkt, ohne der Gesundheit unmittelbar oder mittelbar dienlich zu sein, wenn es aber nicht ausschließlich gesundheitsschädliche Eigenschaften hat und deshalb einem Rauschmittel nicht vergleichbar ist?

 

23   Der Europäische Gerichtshof hat durch Urteil vom 13.10.2022 in der Rechtssache C-616/20 die Fragen wie folgt beantwortet:

 

24   1. Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG ist dahin auszulegen, dass

 

25   eine nationale Behörde bei der Einstufung eines Produktes als „Arzneimittel“ im Sinne dieser Bestimmung die pharmakologischen Eigenschaften dieses Produktes feststellen kann, indem sie sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einem Strukturanalogon dieses Stoffes stützt, wenn keine wissenschaftlichen Untersuchungen des Stoffes, aus dem das Produkts besteht, verfügbar sind und sofern der Grad der Analogie auf der Grundlage einer objektiven und wissenschaftlich fundierten Analyse die Annahme zulässt, dass ein Stoff, der in einem Produkt in einer bestimmten Konzentration vorhanden ist, die gleichen Eigenschaften aufweist wie ein vorhandener Stoff, für den die erforderlichen Untersuchungen vorliegen.

 

26   2. (und 3.) Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG ist dahin auszulegen, dass ein Produkt, das die physiologischen Funktionen beeinflusst, nur dann als „Arzneimittel“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, wenn es konkrete, der Gesundheit zuträgliche Wirkungen hat. Insoweit genügt eine Verbesserung des Aussehens, die durch die Steigerung des Selbstwertgefühls oder des Wohlbefindens einen mittelbaren Nutzen herbeiführt, wenn sie die Behandlung einer anerkannten Krankheit ermöglicht. Dagegen kann ein Produkt, das das Aussehen verbessert, ohne schädliche Eigenschaften zu haben, und das keine gesundheitsfördernden Wirkungen hat, nicht als „Arzneimittel“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden.

 

27   Die Beteiligten haben wie folgt zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und ihren Auswirkungen auf das vorliegende Verfahren Stellung genommen:

 

28   Die Klägerin hat ausgeführt, die Annahme einer Strukturanalogie zum Beweis einer pharmakologischen Wirkung eines bisher nicht untersuchten Stoffes erfordere eine wissenschaftlich fundierte Prüfung im Einzelfall, ob die Eigenschaften und Wirkungen eines bekannten Stoffes auf einen strukturähnlichen Stoff übertragen werden könnten. Diesen Nachweis habe das BfArM hier nicht geführt. Die Klägerin verweist insofern auf die bereits dargelegten chemischen und pharmakologischen Unterschiede der relevanten Wirkstoffe Bimatoprost und MDN in der Widerspruchsbegründung vom 29.08.2014 und der Klagebegründung vom 01.02.2018 (Punkt 2 ab S. 9).

 

29   Selbst bei Bejahung einer Strukturanalogie fehle es aber an einer nennenswerten Beeinflussung der Funktionsbedingungen des menschlichen Körpers, die Voraussetzung der Funktionsarzneimitteleigenschaft sei. Auch unter Berücksichtigung der Modalitäten des Gebrauchs, der Umfang der Verbreitung und der Bekanntheit bei Verbrauchern zeige sich, dass das Produkt nach Werbung und Aufmachung eindeutig im Kosmetikbereich verankert sei.

 

30   Die weitere Voraussetzung, dass das Produkt eine konkrete, der Gesundheit dienliche Wirkung haben müsse, sei nur erfüllt, wenn die mit der Wimpernverlängerung bewirkte Verbesserung des Aussehens und des Wohlbefindens einen mittelbaren Nutzen für die Gesundheit herbeiführe, weil sie die Behandlung einer anerkannten Krankheit ermögliche. Dies sei aber durch die mit dem Wirkstoff BMP durchgeführten Studien nicht belegt. Die Frage, welche Ursache die bei den Studienteilnehmern vorliegende „idiopathische Hypertrichose“ gehabt habe und ob diese Ursache Krankheitswert gehabt habe, sei bei diesen Studien nicht untersucht worden. Eine Wirkung bei möglichen krankheitsbedingten Ursachen wie Alopecia areata, Kollagenosen oder entzündlichen Hauterkrankungen sei nicht nachgewiesen.

 

31   Schließlich könnten schädliche Wirkungen des streitgegenständlichen Produktes aus Studien oder Fallberichten zu „Lumigan“ oder „Latisse“ nicht abgeleitet werden, weil es erhebliche Unterschiede in der Darreichungsform, dem Applikationsort und der applizierten Menge des Wirkstoffs gebe. Das Produkt könne schon wegen seiner Applikation auf dem Augenlid nicht in einer vergleichbaren Menge in das Auge gelangen. Schließlich zeigten die Ergebnisse der vom BfArM ausgewerteten klinischen Studien, dass es keine relevanten Unterschiede zwischen der Wirkstoff- und der Placebogruppe gegeben habe.

 

32   Die Klägerin beantragt,

 

33   den Bescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 29.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.10.2017 aufzuheben.

 

34   Die Beklagte beantragt,

 

35              die Klage abzuweisen.

 

36   Die Beklagte hält an ihrer Einstufungsentscheidung fest und erklärt, die Voraussetzungen für die Annahme einer Strukturanalogie seien erfüllt, weil der Grad der Analogie zu BMP so hoch sei, dass die Annahme einer gleichartigen Wirkung des Stoffes MDN wissenschaftlich begründet sei und verweist hierzu auf ihre Stellungnahme für den EuGH. Alle vorhandenen Daten zeigten vergleichbare Eigenschaften von MDN und BMP. Außerdem sei aufgrund der Zweckbestimmung des vorliegenden Produktes zur Förderung des Wimpernwachstums davon auszugehen, dass es eine vergleichbare Wirkung habe wie das in den USA zur Behandlung der Hypotrichose zugelassene Arzneimittel „Latisse“. Dafür spreche, dass MDN in einzelnen Proben laut einer aktuellen Stichprobenanalyse des Wimpernserums durch das Chemische und Veterinäruntersuchungsamt Karlsruhe vom 29.05.2021 – entgegen den Angaben der Klägerin – eine vergleichbare Konzentration aufgewiesen habe wie Latisse, nämlich einen Gehalt von bis zu 0,0302% MDN.

 

37   Auch sei das Produkt geeignet, zur Behandlung einer anerkannten Krankheit zu dienen, nämlich zur Behandlung einer idiopathischen (d.h. ohne bekannte Ursache) Hypotrichose der Wimpern und einer Madarosis nach einer Chemotherapie. Die idiopathische Hypotrichose der Wimpern (spärliche Behaarung) sei in der „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD)“ unter dem ICD-Code L65.9 und „Madarosis“ (Wimpernausfall) unter ICD H02.7 erfasst. Eine schwerwiegende Hypotrichose der Wimpern sei aus Sicht des BfArM als Krankheit anzusehen. Ein Wimpernverlust nach Chemotherapie sei ein behandlungsbedürftiges Symptom einer unerwünschten Arzneimittelwirkung, die auch als Krankheit eingeordnet werden könne. Die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA habe die Hypotrichose der Wimpern als Anwendungsgebiet des Arzneimittels Latisse anerkannt. In den im Rahmen der Marktzulassung in den USA vorgelegten placebokontrollierten Zulassungsstudien habe sich BMP zur Behandlung der schweren Hypotrichose und der Madarosis nach Chemotherapie als wirksam zur Verbesserung des Wimpernwachstums und auch zur Förderung der Patientenzufriedenheit erwiesen. Auch sei auf die wichtige Schutzfunktion der Augenwimpern vor Schweiß, Staub, Schmutzpartikeln und kleinen Fremdkörpern zu verweisen.

 

38   Die Tatsache, dass nach einer Chemotherapie die wimpernwachstumsfördernde Wirkung erst nach Regeneration der Haarfollikel stattfinden könne und das T.     nicht den Ausfall verhindere, spreche nicht gegen die therapeutische Eignung. Patienten mit Madarosis hätten einen großen Leidensdruck infolge der emotionalen und psychischen Belastung, sodass die rasche Wiederherstellung der Wimpern therapeutisch sinnvoll sei, was auch die Klägerin in ihren FAQs erwähne.

 

39   Schließlich führe BMP in Wimpernseren zu Augenreizungen und anderen Schäden am Auge, weshalb die australische Arzneimittelbehörde die Zulassung von „Latisse“ wegen eines negativen Nutzen-Risiko-Verhältnisses abgelehnt habe.

 

40   Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge und alle sonstigen von den Beteiligten vorgelegten Unterlagen Bezug genommen.

 

41                                                        E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

 

42   Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 29.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.10.2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

 

43   Gemäß § 21 Abs. 4 Satz 1 AMG entscheidet die zuständige Bundesoberbehörde unabhängig von einem Zulassungsantrag des pharmazeutischen Unternehmers auf Antrag einer zuständigen Landesbehörde über die Zulassungspflicht eines Arzneimittels. Die Vorschrift ermächtigt die Bundesoberbehörde, die Zulassungspflicht durch Verwaltungsakt festzustellen. Die Entscheidung über die Zulassungspflicht eines Arzneimittels schließt die Entscheidung über die Arzneimitteleigenschaft eines Produktes als vorgreifliche Frage ein,

 

44   vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27.01.2015 – 13 A 1872/14 –, juris; Urteile der Kammer vom 08.11.2011 – 7 K 4577/07 – ,  vom 10.10.2017 – 7 K 3344/14 –  und vom 07.11.2017 – 7 K 5706/14 und 7 K 4696/16 –; Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht – Kommentar (Loseblatt, Stand: 135 Akt.-Lieferung 2019), § 21 Erl. 73; Winnands/Kügel, in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Auflage 2022, § 21 Rn. 107.

 

45   Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Einstufungsentscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich. Jedoch können der gerichtlichen Entscheidung auch solche wissenschaftlichen Erkenntnisse (Studien, Sachverständigengutachten) zugrunde gelegt werden, die erst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgrund der gebotenen Ermittlung des Sachverhaltes nach § 86 VwGO gewonnen wurden, die aber über die Sachlage zum maßgeblichen Zeitpunkt Auskunft geben,

 

46   vgl. BVerwG, Beschluss vom 21.11.2022 – 3 B 1.22 – juris, Rn. 13              , Beschluss vom 20.05.2021 – 3 C 19.19 – juris, Rn. 9 und Urteil vom 07.11.2019 – 3 C 19.18 – juris, Rn. 17 ff.

 

47   Die Feststellungsentscheidung des BfArM war im maßgeblichen Zeitpunkt, dem Erlass des Widerspruchsbescheides vom 06.10.2017, rechtswidrig, weil es sich bei dem von der Klägerin in den Verkehr gebrachten Produkt „K.     “ nicht um ein Funktionsarzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 a AMG handelt, das einer arzneimittelrechtlichen Zulassung bedarf. Vielmehr ist das Erzeugnis als Kosmetikprodukt einzuordnen.

 

48   Gemäß § 2 Abs. 1 AMG sind Arzneimittel Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die (1.) entweder zur Anwendung im oder am menschlichen oder tierischen Körper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind (sog. „Präsentationsarzneimittel“) oder die (2.) im oder am menschlichen Körper angewendet oder verabreicht werden können, um entweder a) die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder b) eine medizinische Diagnose zu erstellen (sog. „Funktionsarzneimittel“).

 

49   Diese gesetzlichen Definitionen beruhen auf dem europarechtlichen Arzneimittelbegriff in Art. 1 Nr. 2 Buchstaben a und b der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 06.11.2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel (ABl. L 311 vom 28.11.2001, S. 67), in der Fassung der Richtlinie 2012/26/EU vom 25.10.2012 (ABl. L 299 vom 25.10.2012, S.1).

 

50   Aufgrund ihrer unionsrechtlichen Vorprägung sind die nationalen Bestimmungen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs richtlinienkonform auszulegen.

 

51   Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13.10.2010 – 13 A 1187/10 –, auch Urteile vom 26.09.2019 – 13 A 3290/17 und 13 A 3292/15 –, sämtlich juris.

 

52   Bei der Beurteilung, ob es sich bei einem bestimmten Produkt um ein Arzneimittel handelt, sind neben der positiven Definition in § 2 Abs. 1 AMG auch die Ausschlussbestimmungen in § 2 Abs. 3 AMG in den Blick zu nehmen, die notwendige Abgrenzungen zu anderen Produktkategorien enthalten.

 

53   Nicht unter den Arzneimittelbegriff fallen gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 3 AMG kosmetische Mittel im Sinne des Art. 2 Abs. 1 Buchst. a auch in Verbindung mit Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.11.2009 über kosmetische Mittel (ABl. L 342 vom 22.12.2009, S. 59) in der Fassung der Verordnung (EU) 2017/1413 vom 03.08.2017 (L 203 vom 04.08.2017).

 

54   Nach dieser Definition sind kosmetische Mittel Stoffe oder Gemische, die dazu bestimmt sind, äußerlich mit den Teilen des menschlichen Körpers (Haut, Behaarungssystem, Nägel, Lippen und äußere intime Regionen) oder mit den Zähnen und den Schleimhäuten der Mundhöhle in Berührung zu kommen, und zwar zu dem ausschließlichen oder überwiegenden Zweck, diese zu reinigen, zu parfümieren, ihr Aussehen zu verändern, sie zu schützen, sie in gutem Zustand zu halten oder den Körpergeruch zu beeinflussen.

 

55   Bei der Abgrenzung von Produktkategorien ist weiterhin § 2 Abs. 3a AMG (sog. Zweifelsfallregelung) zu berücksichtigen. Danach sind Arzneimittel auch Erzeugnisse, die Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen sind oder enthalten, die unter Berücksichtigung aller Eigenschaften des Erzeugnisses unter eine Begriffsbestimmung des Absatzes 1 fallen und zugleich unter die Begriffsbestimmung eines Erzeugnisses nach Absatz 3 fallen können.

 

56   Bei Anwendung dieser Definitionen ist festzustellen, dass das streitgegenständliche Produkt ein kosmetisches Produkt im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchstabe a der Europäischen Kosmetikverordnung ist, die Eigenschaften eines Funktionsarzneimittels im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a AMG aber nicht aufweist und damit kein Arzneimittel im Sinne dieser Bestimmung ist.

 

57   Das von der Klägerin vermarktete Wimpernserum ist ein Kosmetikprodukt, da es Stoffe enthält, die dazu bestimmt sind, äußerlich mit der Haut des Oberlides und dem Behaarungssystem (Wimpern des Oberlides) in Berührung zu kommen und zwar zu dem ausschließlichen Zweck, das Aussehen durch die Verlängerung und Verdichtung zu verbessern und die Wimpern in einem guten Zustand zu erhalten.

 

58   Demgegenüber handelt es sich nicht um eine Zubereitung aus Stoffen, die am menschlichen Körper angewendet werden können, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen, § 2 Abs. 1 Nr. 2 a AMG.

 

59   Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind bei der Entscheidung, ob ein Erzeugnis ein Funktionsarzneimittel ist, alle Merkmale des Produktes, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften – wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen -, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann, zu berücksichtigen,

 

60   ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. etwa Urteil vom 03.10.2013, C-109/12 ; BVerwG, Urteil vom 20.11.2014 – 3 C 26.13 – jeweils mit weiteren Nachweisen, juris.

 

61   Darüber hinaus können Produkte, die zwar auf den menschlichen Körper einwirken, aber keine nennenswerten physiologischen Auswirkungen haben und seine Funktionsbedingungen somit nicht wirklich beeinflussen, nicht als Arzneimittel eingestuft werden,

 

62              vgl. EuGH, Urteil vom 30.04.2009, C-27/08, juris, Rn. 21.

 

63   In der Entscheidung des EuGH vom 10.07.2014 zu den sog. „Legal-Highs“ (synthetische Cannabisprodukte) hat der Gerichtshof ergänzend darauf hingewiesen, dass die beiden Definitionen von Arzneimitteln nach der „Präsentation“ und der „Funktion“ in Verbindung miteinander gelesen werden müssten. Die Begriffsbestimmung des Art. 1 Nr. 2 Buchstabe a der Richtlinie (entspricht § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG) nehme auf „Eigenschaften zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten“ Bezug. Die Definition in Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b der Richtlinie (entspricht § 2 Abs. 1 Nr. 2 b AMG) verweise auf die Zweckbestimmung der Erstellung einer medizinischen Diagnose. Auch aus den weiteren Merkmalen, der Wiederherstellung oder Korrektur physiologischer Funktionen ergebe sich im Zusammenhang mit dem Ziel der Richtlinie, ein hohes Niveau des Schutzes der menschlichen Gesundheit zu erreichen, dass auch Stoffe zur Beeinflussung der physiologischen Eigenschaften immer eine positive Wirkung für die menschliche Gesundheit haben müssten, und zwar auch ohne dass eine Krankheit vorliege,

 

64              vgl. EuGH, Urteil vom 10.07.2014, C-358/13 u.a., juris, Rn. 29 ff.

 

65   Stoffe, deren Wirkungen sich auf eine schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen beschränkten, ohne dass sie geeignet wären, der menschlichen Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein, seien daher keine Funktionsarzneimittel.

 

66   Mittel, die nicht zu therapeutischen, sondern allein zu Entspannungszwecken konsumiert würden und die dazu gesundheitsschädlich seien, fielen nicht unter diesen Begriff,

 

67              vgl. EuGH, Urteil vom 10.07.2014, C- 358/13 u.a., juris, Rn. 38, 46 und 50.

 

68   Mit der von der Kammer eingeholten Vorabentscheidung des Gerichtshofs vom 13.10.2022 hat dieser daran festgehalten, dass ein Produkt, das die physiologischen Funktion wesentlich beeinflusse, konkrete, der Gesundheit zuträgliche Wirkungen haben müsse, um ein Funktionsarzneimittel zu sein. Ein Produkt, das lediglich das Aussehen verbessere und keine gesundheitsfördernden Wirkungen habe, könne dagegen nicht als Arzneimittel eingestuft werden. Jedoch genüge eine Verbesserung des Aussehens dann zur Begründung der Arzneimitteleigenschaft, wenn diese durch eine Steigerung des Selbstwertgefühls oder des Wohlbefindens einen mittelbaren Nutzen herbeiführe, indem sie die Behandlung einer anerkannten Krankheit ermögliche. Eine derartige Bewertung dürfe sich aber nicht aus einer subjektiven Beurteilung ergeben, sondern müsse auf einer wissenschaftlichen Feststellung beruhen,

 

69              vgl. EuGH, Urteil vom 13.10.2022, C-616/20, juris, Rn. 52 und 53.

 

70   Bei Anwendung dieser Maßstäbe ist die Kammer zu der Einschätzung gelangt, dass das streitbefangene Wimpernserum nicht die Eigenschaft eines Funktionsarzneimittels hat, weil es keine nennenswerten gesundheitsfördernden Wirkungen hat.

 

71   Zwar spricht sehr viel dafür, dass das streitgegenständliche Produkt mittels einer pharmakologischen Wirkung die physiologischen Funktionen nicht unerheblich beeinflusst, indem es das Wimpernwachstum um bis zu 50 % verstärkt und damit außerhalb der normalen Schwankungen des Wachstums liegt, das durch Ernährung oder Jahreszeiten beeinflusst sein kann. Auch liegen deutliche Anhaltspunkte dafür vor, dass der eingesetzte Wirkstoff MDN vergleichbare Wirkungen wie der Arzneiwirkstoff BMP entfaltet, zumal sich durch die Untersuchungen des Chemischen und Veterinäruntersuchungsamts Karlsruhe vom 19.05.2021 inzwischen gezeigt hat, dass der Wirkstoffgehalt schwankt und teilweise auch die in „Latisse“ vorhandene Konzentration von 0,03 % erreicht. Das europäische wissenschaftliche Komitee für Verbrauchersicherheit (SCCS) hat aktuell mit seiner Stellungnahme vom 03.02.2022 zu den Wirkungen von Prostaglandinen und ihren Analoga in Kosmetika festgestellt:

 

72   „Prostaglandins and synthetic analogues are widely known to be potent pharmacologically active substances. … In view of the potential for causing effects at very low concentrations, and the intended use in the proximity of the eye, the SCCS has noted concerns over the safety of prostaglandin analogues when used in cosmetic products.“

 

73   Vgl. Scientific Committee on Consumer Safety, „Opinion on Prostaglandins and prostaglandin-analogues used in Cosmetic products“ vom 03.02.2022, S. 3.

 

74   Dies bedeutet frei übersetzt, dass Prostaglandine und synthetische Analoga verbreitet dafür bekannt sind, dass es sich um wirksame pharmakologisch aktive Substanzen handelt. Im Hinblick auf die Eigenschaft, Wirkungen bereits bei sehr niedrigen Konzentrationen zu entfalten, und auf die beabsichtigte Verwendung in der Nähe des Auges, hat das Komitee Bedenken gegen die Sicherheit von Prostaglandin-Analoga, wenn sie in kosmetischen Produkten eingesetzt werden.

 

75   Ob diese wissenschaftliche Stellungnahme, die sich auf Prostaglandinanaloga allgemein bezieht und bei der Unterlagen zu MDN mangels Einreichung nicht berücksichtigt werden konnten, ausreichend ist, um auch für das vorliegende Produkt eine auf die Annahme von Strukturanalogien gestützte wissenschaftlich begründete Feststellung zu den pharmakologischen Eigenschaften zu treffen, kann jedoch dahinstehen.

 

76   Denn allein die Annahme des Einsatzes eines pharmakologisch wirksamen Stoffes in einem Produkt genügt nicht zur Begründung der Eigenschaft als Funktionsarzneimittel, da alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen sind,

 

77   vgl. auch „Manual of the working group on cosmetic products (sub-group on borderline products) on the scope of application oft he cosmetics regulation (EC) No. 12223/2009 (Art. 2 (1) (A), Version 2.2 (February 2016), Rn. 95, Anlage K 12, Beiakte 2.

 

78   Vielmehr handelt es sich um ein Produkt, das von der Klägerin allein als Beauty-Produkt vermarkt wird und von den Verbraucherinnen – wie eine Mascara (Wimperntusche) ausschließlich zur Steigerung der Attraktivität verwendet wird. Die äußere Aufmachung – wie eine Mascara oder ein Eyeliner – , die Bewerbung als Kosmetikprodukt,

 

79   „Zitat wurde entfernt“.

 

80   und die Auffassung der Verbraucher, zum Beispiel in Bewertungsportalen zu Produkten zur Förderung des Wimpernwachstums, verorten das Erzeugnis eindeutig im Kosmetikbereich. Es richtet sich nicht an Menschen mit krankhaftem Wimpernausfall, sondern an die gesunde Verbraucherin, die normale oder gering ausgeprägte Wimpern verstärken will. Eine Verbesserung des Schutzeffektes der Wimpern vor Fremdkörpern oder Schweiß für das Auge tritt hierbei völlig in den Hintergrund.

 

81   Nach der Rechtsprechung des EuGH können aber Stoffe, die nicht zu therapeutischen Zwecken, sondern ausschließlich zu anderen Zwecken, hier zur Verbesserung des Aussehens, eingesetzt werden und möglicherweise gesundheitsschädlich sind, nicht als Arzneimittel eingestuft werden,

 

82   vgl. EuGH, Urteil vom 10.07.2014, C-358/13, juris Rn. 46.

 

83   Wie bei den synthetischen Cannabinoiden fehlt es diesem Kosmetikprodukt an der Eigenschaft, einen nennenswerten unmittelbaren oder mittelbaren Nutzen für die Gesundheit herbeizuführen. Hierbei ist davon auszugehen, dass auch alle kosmetischen Mittel eine gesundheitsfördernde Wirkung haben, indem sie zur Reinigung und Pflege der Haut dienen oder über eine Verbesserung des Aussehens ein größeres Wohlbefinden ermöglichen. Die Einstufung als Arzneimittel muss somit eine gesundheitsfördernde Wirkung haben, die über diese – allen Kosmetika immanente – Wirkung hinausgeht. Der Europäische Gerichtshof hat diese zusätzliche Wirkung damit umschrieben, dass das Mittel die Behandlung einer anerkannten Krankheit ermöglichen muss. Hierbei kann sich eine Behandlung nicht darin erschöpfen, dass das Mittel nur während der Behandlung einer anerkannten Krankheit eingesetzt werden kann. Vielmehr muss die Verwendung des Mittels zu einer Heilung oder zumindest zur Linderung von Symptomen führen können. Dies ergibt sich aus der Auslegung des Funktionsarzneimittelbegriffs in Verbindung mit der Definition des Präsentationsarzneimittels in § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG, wie sie von der Rechtsprechung des EuGH vorgenommen wurde.

 

84   Es kann nicht festgestellt werden, dass das streitbefangene Mittel mittels der Verbesserung des Wimpernwachstums zu einer Heilung oder Linderung von krankhaften Beschwerden einer anerkannten Krankheit eingesetzt werden kann. In der Europäischen Union gibt es kein zugelassenes Arzneimittel mit dem Wirkstoff BMP oder MDN zur Förderung des Wimpernwachstums.

 

85   Das insoweit darlegungspflichtige BfArM hat sich darauf berufen, dass das Produkt zur Behandlung eines krankhaften Wimpernausfalls (Madarosis) bzw. einer krankhaften Hypotrichose (spärliche Behaarung) oder eines Wimpernausfalls im Rahmen einer Chemotherapie eingesetzt werden könne. Auch seien der anlagebedingte Haarausfall und eine anlagebedingte (idiopathische) Hypotrichose bei starker Ausprägung und einer damit einhergehenden psychischen Belastung als Krankheit aufzufassen.

 

86   Zunächst ist nicht wissenschaftlich festgestellt, dass das streitgegenständliche Mittel zumindest potentiell zur Behandlung eines krankhaften Ausfalls der Wimpern (Madarosis oder Hypotrichose) eingesetzt werden kann.

 

87   Das BfArM nennt beispielsweise Alopecia areata, Kollagenosen oder chronisch entzündliche Hautkrankheiten als Ursache einer krankhaften Hypotrichose. Zahlreiche andere Krankheiten wie zum Beispiel Blepharitis, Hautkrankheiten, Hypothyreose oder unerwünschte Arzneimittelnebenwirkungen werden als mögliche Ursache einer Madarosis aufgeführt. Es erscheint jedoch nicht plausibel, dass ein Mittel, das die Wachstumsphase der Wimpern verlängert, auch zur Behandlung dieser Krankheiten eingesetzt werden kann, ohne dass die Ursachen dieser Krankheiten beseitigt werden. In dem vom BfArM vorgelegten Artikel von Nguyen/Hu/Tosti vom 31.08.2022 „Eyebrow and F.       Alopecia: A Clinical Review“ (Beiakte 10) wird als Ergebnis festgehalten, dass die Behandlung darauf ausgerichtet werden muss, die zugrundeliegende Entstehung (Ätiologie) der Krankheit, also die Krankheitsursache, in den Blick zu nehmen, nachdem eine Diagnose erstellt wurde („Conclusion“). Eine wissenschaftliche Untersuchung der Wirkung von Prostaglandinanaloga auf krankhaften Wimpernausfall wurde bisher nicht durchgeführt.

 

88   Es gibt auch keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass das Mittel zur Bekämpfung eines anlagebedingten – androgenetischen –  Haarausfalls im Bereich der Wimpern eingesetzt werden kann. Hierbei kann dahinstehen, ob diese Erscheinung als Erkrankung bezeichnet werden kann. Beim androgenetischen Haarausfall, von dem auch Frauen betroffen sein können, ist eine Überempfindlichkeit der Haarfollikel gegen das Hormon Dihydrotestosteron die Ursache, welches die Wachstumsphase der Haare verkürzt,

 

89   vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Haarausfall.

 

90   Ob das streitgegenständliche Produkt eine ausreichende Wirkung entfaltet, um dieser hormonbedingten Störung entgegenzuwirken, ist nicht untersucht.

 

91   Das BfArM kann sich auch nicht auf die Studien mit „Latisse“ berufen, die vor und nach der Zulassung durch die Arzneimittelbehörden in den USA durchgeführt wurden und in denen eine Wirkung von BMP auf die sog. „idiopathische“ Hypotrichose nach Auffassung der dortigen Behörden festgestellt wurde.

 

92   Eine idiopathische Hypotrichose, also eine spärliche Wimpernbehaarung ohne eine feststellbare Ursache, ist nach Auffassung der Kammer keine anerkannte Krankheit, sondern eine Erscheinungsform des menschlichen Körpers, die sich im Rahmen einer normalen Bandbreite bewegt. Dementsprechend bezeichnet das BfArM selbst die Menschen in dieser Untersuchungsgruppe als „gesunde Probanden mit idiopathischer Hypotrichose“. Ob diese Probanden zuvor an einem „Haarausfall ohne Narbenbildung, nicht näher bezeichnet“ wie im ICD-Code L65.9 litten, lässt sich den Studienberichten nicht entnehmen. Eingeschlossen in die Studien wurden Menschen mit einer geringen Wimpernbehaarung. Ob eine spärliche Wimpernbehaarung zu einer so starken psychischen Belastung führt, dass diese als Erkrankung gewertet werden kann, ist bisher nicht wissenschaftlich festgestellt und wurde auch in den vorgelegten Studien nicht untersucht. Das BfArM nennt insoweit keine weiterführenden Publikationen.

 

93   Darüber hinaus hat BMP in den Zulassungsstudien zu „Latisse“ Nr. 192024-032 und 192024-38 sowie in den Studien von Harii 2014 zwar zu einer signifikanten Verstärkung des Wimpernwachstums sowie zu einer Verbesserung der Lebenszufriedenheit geführt. Mit dem Patienten-Fragebogen zur Messung der Lebenszufriedenheit wurden Aspekte der Zufriedenheit mit dem Aussehen der Wimpern, auch im Hinblick auf Selbstvertrauen, Attraktivität, Kompetenz und Zufriedenheit mit der täglichen Routine ermittelt,

 

94   vgl. Clinical Review vom 19.12.2008 für „Latisse“; Glaser et al. „Long-term safety and efficacy of bimatoprost solution … for the treatment of idiopathic and chemotherapy-induced eyelash hypotrichosis, British Journal of dermatology (2015), S. 1384 ff.; Harii et al., „Bimatoprost for F.       Growth in Japanese Subjects“, Aesth. Plast. Surg.  (2014), 451 ff., alle in BA 10.

 

95   Hierbei handelt es sich jedoch ausschließlich um einen ästhetischen und praktischen Nutzen sowie eine Steigerung des Selbstwertgefühls. Eine Verbesserung der psychischen Gesundheit wurde nicht untersucht. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass der pharmazeutische Unternehmer im Zulassungsverfahren von „Latisse“ in den USA in erster Linie als Indikation einen „ästhetischen Nutzen“ mit Auswirkung auf das Selbstbewusstsein, die Attraktivität und Wohlbefinden beansprucht hat:

 

96   „The current NDA under review is for a product that is intended to offer a predominantly aesthetic benefit.“

 

97   Vgl. Allergan, „Dermatologic and Ophthalmic Drugs Advisory Committee Briefing Document“ vom 05.12.2008, S. 16 f., Anlage K 13, Beiakte 2.

 

98   Schließlich kann auch aus einem Einsatz des Produkts zur Steigerung des Wimpernwachstums nach einem Haarverlust aufgrund einer Chemotherapie kein wissenschaftlich begründeter therapeutischer Nutzen abgeleitet werden. Hierbei besteht kein Zweifel, dass der Verlust von Wimpern und Brauen durch eine Chemotherapie zur Krebsbekämpfung eine schwere psychische Belastung darstellt, die die ohnehin bestehende Belastung durch die Krankheit und ihre Behandlung zusätzlich verstärkt. In diesem Sinne kann die chemotherapieinduzierte Madarosis als Symptom einer anerkannten Krankheit eingeordnet werden. Allerdings ist das streitgegenständliche Produkt nicht dazu geeignet, den Wimpernverlust zu verhindern oder eventuell geschädigte Follikelzellen wieder zu regenerieren. Vielmehr kann sich die wachstumsverstärkende Wirkung des Mittels erst dann entfalten, wenn das Wimpernwachstum von selbst wieder einsetzt, was in der Regel der Fall ist.

 

99   Der Umstand, dass das normale Aussehen der Wimpern mit Hilfe des Mittels schneller wieder erreicht werden kann, könnte für Krebspatienten und Krebspatientinnen von Nutzen sein. Jedoch ist bisher nicht wissenschaftlich festgestellt, dass eine Beschleunigung oder Verstärkung des Wimpernwachstums, die allenfalls für eine Übergangszeit einen Unterschied zur natürlichen Regeneration der Wimpern bewirkt, tatsächlich einen nennenswerten Effekt bei der Bekämpfung einer Krebsbehandlung hat, die über die reine Verbesserung des Aussehens hinausgeht.

 

100   In den mit BMP durchgeführten Studien, die die Wirkung bei Krebspatienten nach einer Chemotherapie untersuchten, wurde mit dem bereits erwähnten Patientenfragebogen lediglich eine Verbesserung der Lebensqualität untersucht. Eine Verbesserung des psychischen Leidenszustandes der Patienten war nicht Gegenstand der Studien.

 

101   Vgl. Glaser et al. „Long-term safety and efficacy of bimatoprost solution … for

 

102   the treatment of idiopathic and chemotherapy-induced eyelash hypotrichosis, British Jornal of dermatology (2015), S. 1384 ff.; Harii et al., „Bimatoprost for F.       Growth in Japanese Subjects“, Aesth. Plast. Surg.  (2014), 451 ff., beide in BA 10.

 

103   Darüber hinaus hat die australische Zulassungsbehörde, die die Zulassung von „Latisse“ für die Indikation bei idiopathischer Hypotrichose abgelehnt hat, nicht nur ein Problem wegen der unerwünschten Nebenwirkungen des Wirkstoffes gesehen. Vielmehr wurden auch Zweifel am Wirksamkeitsnachweis aufgrund von erheblichen Mängeln von Design und Bewertung der Ergebnisse der vorgelegten Studien, insbesondere der Studie 192024-38, geäußert. In dem Assessment Report heißt es, einzelne Daten der Post-Chemotherapie-Probanden bei der Auswertung des Patientenfragebogens legten die Annahme nahe, dass das verstärkte Wimpernwachstum nicht notwendigerweise mit einem psychologischen Nutzen verbunden sei,

 

104   vgl. Australien Public Assessment Report for Bimatoprost (Latisse), Juni 2014: „…It also suggests for those experiencing an improvement in their eyelash prominence, that this is not necessarily accompanied by a psychological benefit related specifically to that.“, Bl. 212, 226, 227, Rn. 17.

 

105   Damit ist ein möglicher positiver und nennenswerter Beitrag von Wimpernwachstumsmitteln zur Behandlung von Krebspatienten nach einer Chemotherapie bisher nicht dargelegt.

 

106   In der Gesundheitsinformation des Bundesgesundheitsministeriums zum Thema „Haarausfall bei Chemotherapie“ wird jedenfalls der Einsatz eines Wimpernserums im Anschluss an die Chemotherapie nicht empfohlen. Dort wird zum Einsatz von künstlichen Wimpern und Make up oder zum Austausch mit anderen Betroffenen oder einer Psychoonkologin geraten. Auch der Umstand, dass die Klägerin in ihren FAQs die Anwendung des Mittels nach einer Chemotherapie von einer Rücksprache mit dem behandelnden Arzt abhängig macht, ist kein belastbarer Anhaltspunkt für eine objektiv feststellbare therapeutische Eignung des Serums.

 

107   Schließlich wird ein möglicher therapeutischer Nutzen des Mittels nicht dadurch gestützt, dass die Krankenkassen die Kosten für eine Versorgung von Krebspatienten und Krebspatientinnen mit Perücken übernehmen. Nicht jedes Produkt, das im Rahmen einer Behandlung einer Krankheit sinnvoll eingesetzt werden kann, wird dadurch zu einem Arzneimittel oder zu einem Medizinprodukt. Haarperücken oder künstliche Wimpern zur Versorgung von Krebspatienten dienen nicht der Behandlung des Haarausfalls, sondern verdecken lediglich die haarlose Haut und dienen daher in erster Linie zu einer Verbesserung des Aussehens und des damit verbundenen Wohlbefindens. Dies trifft auch auf das vorliegende Produkt zu.

 

108   Die vom Bundesinstitut für Risikobewertung und von dem Europäischen Komitee für Verbrauchersicherheit bemängelten gesundheitlichen Risiken bei Anwendung von Prostaglandin-Analoga am Auge sprechen nicht zwingend dafür, das streitgegenständliche Produkt als Arzneimittel einzustufen.

 

109   Zwar hat die australische Arzneimittelbehörde festgestellt, dass bei der Anwendung von „Latisse“ im Vergleich zu Placebo signifikant mehr Nebenwirkungen auftraten, insbesondere Rötung und Brennen der Augen, nicht reversible Verfärbung der Iris, Einsinken des Auges durch Veränderung des Fettpolsters, Veränderungen des Augenlids. Darüber hinaus sind die Nebenwirkungen bei einer Daueranwendung nicht erforscht. Die Versuche der Klägerin am befruchteten Hühnerei und am Rücken von menschlichen Probanden sind auf die Situation am Auge nicht übertragbar und insbesondere bei Daueranwendung nicht dazu geeignet, mögliche Risiken zu widerlegen. Die Klägerin hat selbst zahlreiche Rückmeldungen über Unverträglichkeiten aus den Jahren 2015 und 2017 aufgelistet (1432 Meldungen in 2015, 1599 in 2016 und 1649 in 2017). Zwar betrafen diese Meldungen nur 1 % des Umsatzes, jedoch dürfte bei Kosmetikprodukten ein erhebliches „Underreporting“ (Verzicht auf Meldung beim Unternehmen trotz Unverträglichkeit) bestehen.

 

110   Die Kammer ist indessen der Auffassung, dass diesen Risiken durch die in der Europäischen Kosmetikverordnung vorgesehenen Regulierungsmaßnahmen begegnet werden kann. Insbesondere können Prostaglandin-Analoga in die Liste der Stoffe aufgenommen werden, die in Kosmetikprodukten verboten sind, Art. 14 Abs. 1 Buchstabe a i.V.m. Anhang 2 VO (EG) 1223/2009 oder es kann die Verwendung eingeschränkt werden. Der SCCS hat hierzu in der Stellungnahme vom 03.02.2022 „Opinion on Prostaglandins and Prostaglandin-analogues used in Cosmetic products“ bereits eine eindeutige Position vertreten.

 

111   Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

 

112   Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.

 

113   Die Kammer hat die Berufung nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen nach § 124 a Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht vorliegen. Insbesondere hat die Entscheidung auch unter Berücksichtigung der beim BfArM noch anhängigen Verfahren keine grundsätzliche Bedeutung, da sie im Hinblick auf die Einheit der Rechtsordnung oder die Fortbildung des Rechts keiner Klärung bedarf. Die Entscheidung betrifft keine tatsächliche oder rechtliche Frage, die über die Entscheidung des Einzelfalls hinaus in einer verallgemeinerungsfähigen Form beantwortet werden kann. Vielmehr hat der EuGH in seiner Vorabentscheidung die allgemeinen Fragen der Kammer beantwortet, wobei die mitgeteilte Auslegung des Arzneimittelbegriffs nun auf das streitgegenständliche Produkt in dem vorliegenden Einzelfall angewendet werden musste.

 

114   Rechtsmittelbelehrung

 

115   Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn

 

116

117   1. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,

 

118   2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,

 

119   3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,

 

120   4. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

 

121   5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

 

122   Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

 

123   Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.

 

124   Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.

 

125   Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.

 

126   Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.

 

127   Beschluss

 

128   Der Wert des Streitgegenstandes wird auf

 

129   50.000,00 €

 

130  festgesetzt.

 

131   Gründe

 

132   Mit Rücksicht auf die Bedeutung der Sache für die Klägerin ist es angemessen, den Streitwert auf den festgesetzten Betrag zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG).

 

133   Rechtsmittelbelehrung

 

134   Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Beschwerde bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln eingelegt werden.

 

135   Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.

 

136   Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.

 

137   Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.

 

138   Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.